22

 

Sie brachte ihn um den Verstand.

Jedes Kreiseln von Tess’ Zunge, jedes lange Saugen ihres Mundes an seinem gespannten Fleisch -  Herr im Himmel, dieses triezende Raspeln ihrer Zähne -    schickte Dante tiefer in einen Strudel lustvoller Qual. Über sie geneigt umklammerte er wie ein Schraubstock die Kanten der Kommode; sein Gesicht war verzerrt, seine Augen zusammengekniffen in süßer Pein.

Seine Hüften pumpten, sein Schwanz drängte sich härter und heftiger bis tief in ihren Schlund. Tess nahm ihn ganz in sich auf. Ihr leises Stöhnen vibrierte spürbar am empfindsamen Kopf seiner Männlichkeit.

Er wollte nicht, dass sie ihn so sah; verloren in einer Lust, die er kaum noch im Griff hatte. Seine weit ausgefahrenen Fangzähne waren trotz der zusammengepressten Lippen beinahe unmöglich zu verbergen. Hinter den geschlossenen Augenlidern brannte sein Sichtfeld lichterloh vor Hunger und nacktem Verlangen.

Er konnte auch Tess’ Begierde spüren. Der süße Duft ihrer Erregung schwängerte die feuchte Luft zwischen ihnen, er stieg ihm in die Nase wie das mächtigste Aphrodisiakum. Inmitten dieses durchdringenden Parfüms aber gärte noch ein anderes Verlangen, eine arglose Neugier, die ihn plättete.

Jedes vorsichtige Raspeln ihrer Zähne über seine Haut enthielt heute eine Frage; jedes kleine Zwicken und Beißen kündete von einem Hunger, den sie wahrscheinlich selbst nicht verstand und schon gar nicht mit Worten ausdrücken konnte. Würde sie seine Haut durchbohren und sein Blut aufnehmen?

Allmächtiger! Die Vorstellung, sie könnte tatsächlich …

Es machte ihn fassungslos, wie sehr er sich wünschte, sie möge ihre winzigen, stumpfen, menschlichen Zähne in sein Fleisch senken. Als sie sich kurz zurückzog und spielerisch in seinen Bauch biss, brüllte er unwillkürlich auf. Sein Verlangen, sie zu ermutigen, sein Blut zu schmecken und von ihm zu trinken, war übermächtig. Es überwältigte beinah den weit klügeren Impuls, sie vor der Stammesverbindung zu bewahren, die sie an ihn ketten würde, solange sie beide lebten.

„Nein“, ächzte er mit rauer, undeutlicher Stimme, seine Fangzähne beeinträchtigten sein Sprechvermögen.

Mit zitternden Händen nahm er sie bei den Hüften und hob sie vor sich. Er wiegte ihren Hintern hin und her, zerriss ihren seidenen Slip und verharrte einen Augenblick zwischen ihren Schenkeln. Sein Schwanz glänzte von der Feuchtigkeit ihres Mundes und vor eigener Erregung, prall geschwollen bis an die Schmerzgrenze. Er war ihm nicht möglich, noch länger sanft und zurückhaltend zu sein, und mit einem heftigen Stoss drang er ganz in sie ein.

Ihr Atem raste an seinem Ohr, ihr Rücken bog sich unter seinen Händen. Ihre Finger gruben sich in seine Schultern, als er sich wie ein Kolben mit schnellen, rhythmischen Stößen in ihr bewegte und den befreienden Erguss herannahen fühlte. Er nahm sie kraftvoll und spürte, wie auch ihr Höhepunkt sich aufbaute, sein Glied von ihr eng umschlossen wie von einer warmen, nassen Faust.

„Oh Gott, Dante!“

Gleich darauf ließ sie sich fallen, kam mit Wucht und zog sich dabei in schlängelnden Windungen eng um ihn zusammen.

Dante folgte ihr über die letzte Hürde, wild und ungestüm schoss sein Orgasmus als heiße Sturzflut aus ihm heraus. Nicht enden wollende Wellen rissen ihn mit sich, er pumpte, als wollte er nie mehr aufhören. Dante riss die Augen weit auf, als sein Körper von der Gewalt seines Höhepunktes geschüttelt wurde.

Im Spiegel über dem Waschbecken erblickte er sein Raubtiergesicht -  das wahre Abbild dessen, wer und was er war.

Seine Pupillen waren schwarze Splitter inmitten von glühendem Bernstein, seine Gesichtszüge völlig animalisch. Die voll ausgefahrenen Fangzähne waren lange, weiße Spitzen, die bei jedem keuchenden Atemzug funkelten.

„Das war … unglaublich“, raunte Tess und hakte sich unter seine Schultern, um näher an ihn heranzurücken.

Sie küsste seine feuchte Haut, ihre Lippen wanderten über sein Schlüsselbein aufwärts bis zu seinem Hals. Ihre Leiber noch ineinanderverschlungen, hielt Dante sie fest an sich gedrückt. Er wartete, ohne sich zu rühren, und nahm den noch immer hungernden Teil in ihm an die Kette. Wieder warf er einen Blick in den Spiegel. Er wusste, dass es noch einige Minuten dauern konnte, bis er sich rückverwandelte und Tess ansehen konnte, ohne sie zu erschrecken.

Er wollte nicht, dass sie Angst vor ihm hatte. Gott, wenn sie ihn jetzt sähe -  wenn sie wüsste, was er mit ihr in jener ersten Nacht getan hatte, als sie ihm mit reiner Freundlichkeit begegnete und er es ihr dankte, indem er seine Zähne in ihren Hals schlug - , dann würde sie ihn hassen. Und zwar mit Recht.

Ein Teil von ihm wollte ihr alles erzählen, was sie vergessen hatte. Die Karten offen auf den Tisch legen. Noch einmal ganz von vorn anfangen, falls sie das konnten.

Ja klar, er konnte sich gut vorstellen, wie diese kleine Unterhaltung vonstattengehen würde. Etwa so leicht verdaulich wie ein Glas mit Heftzwecken. Und mit Sicherheit war das kein Gespräch, das er führen wollte, während sie noch wie aufgespießt auf seinem bereits wieder auflebenden Glied steckte.

Er grübelte noch über die zunehmend komplizierte Situation nach, in der sie sich mittlerweile befanden, da ertönte von der angelehnten Tür zum Flur her ein Knurren. Es war leise, aber unmissverständlich feindselig.

Tess richtete sich auf und drehte ihren Kopf in Richtung Flur.

„Harvard! Was ist los mit dir?“ Sie lachte ein wenig, jetzt, da die Intensität des Augenblicks verflogen war, klang sie schüchtern und verlegen. „Du, ich glaube, wir haben deinen Hund traumatisiert.“

Behutsam löste sie sich von ihm, entwand sich Dantes umfangenden Armen und nahm einen Bademantel vom Haken neben der Tür. Tess schlüpfte hinein und beugte sich zur Wiedergutmachung zu dem Terrier hinunter. Sie hob den Hund hoch und bekam augenblicklich und leidenschaftlich das Kinn abgeleckt. Dante sah den beiden zu und spürte erleichtert, dass sich seine Zähne und Augen zurückverwandelt hatten und er wieder normal aussah.

„Der Hund hat sich wirklich schnell erholt unter deiner Pflege.“ Eine unglaubliche Genesung, dachte Dante; zu unwahrscheinlich für normale medizinische Versorgung.

„Er ist ein Kämpfer“, sagte Tess. „Ich denke, ihm geht’s bald wieder gut.“

Dante hatte sich große Sorgen gemacht, dass sie sein verändertes, wildes Aussehen bemerken würde, doch jetzt wurde ihm klar, dass er keinen Grund zur Sorge hatte. Sie schien nämlich seinem Blick auszuweichen, als hätte sie selbst etwas zu verbergen.

„Ja, es ist erstaunlich, wie der Zustand des Hundes sich verbessert hat. Ich würde es ein Wunder nennen, wenn ich an solche Dinge glauben würde.“ Dante sah sie neugierig, aber ohne Argwohn an. „Was genau hast du eigentlich mit ihm gemacht, Tess?“

Es war eine simple Frage, die sie vermutlich mit irgendeiner Erklärung hätte zufriedenstellend beantworten können. Stattdessen stand sie wie angewurzelt im Türrahmen, und Dante spürte deutlich, wie Panik in ihr aufstieg.

„Tess“, sagte er sanft. „Ist das so schwierig zu beantworten?“

„Nein“, entgegnete sie hastig, aber sie schien an dem Wort zu würgen. Dann warf sie ihm flüchtig einen völlig verschreckten Blick zu. „Ich muss … ich sollte … äh …“

Den Hund an sich gedrückt, legte sie die freie Hand über ihren Mund, wandte sich ab und verließ ohne ein weiteres Wort das Badezimmer.

 

Als sie ins Wohnzimmer kam, setzte sie den Hund aufs Sofa und ging hektisch auf und ab. Sie fühlte sich erwischt, in der Falle, und schnappte nach Luft. So wahr ihr Gott helfe, sie wollte ihm wirklich erzählen, was sie getan hatte, um das Leben des kleinen Hundes zu retten. Sie wollte sich Dante anvertrauen, ihm von ihrer einzigartigen, verfluchten Begabung erzählen -  ihm alles erzählen - , und das machte ihr Angst.

„Tess?“ Dante kam ihr nach, ein Handtuch um die Hüften geschlungen. „Was ist los?“

„Nichts.“ Sie schüttelte den Kopf, zwang sich zu einem Lächeln, das ein bisschen verkniffen geriet. „Alles in Ordnung, wirklich. Möchtest du irgendetwas? Wenn du hungrig bist, da ist noch Hühnchen vom Abendessen. Ich könnte …“

„Ich möchte, dass du mit mir sprichst.“ Er nahm sie bei den Schultern, um sie festzuhalten. „Sag mir, was los ist. Sag mir, worum es hier geht.“

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf und überlegte verzweifelt, wie sie ihr Geheimnis und ihre Schande für sich behalten konnte. „Ich bin einfach … du würdest es nicht verstehen, klar? Ich erwarte auch gar nicht von dir, dass du das verstehst.“

„Probier es aus.“

Tess wollte seinem durchdringenden Blick ausweichen, brachte es aber nicht fertig. Er steckte die Hand nach ihr aus, und ein Teil von ihr sehnte sich verzweifelt danach, etwas Dauerhaftes und Starkes zu ergreifen. Etwas, das sie nicht fallen lassen würde.

„Ich hatte geschworen, es nie wieder zu tun, aber ich …“

O Gott. Sie war nicht wirklich dabei, dieses hässliche Kapitel ihres Lebens für ihn aufzuschlagen, oder doch?

Es war schon so lange ihr Geheimnis. Sie hatte es wild verteidigt, hatte gelernt, es zu fürchten. Die beiden einzigen Menschen, die die Wahrheit über ihre Begabung kannten -  ihr Stiefvater und ihre Mutter - , waren tot. Es war ein Teil ihrer Vergangenheit, und die lag meilenweit hinter ihr.

Dort begraben, wo sie hingehörte.

„Tess.“ Dante führte sie zum Sofa und setzte sie neben Harvard, der sofort voller Begeisterung schwanzwedelnd auf ihren Schoß kletterte. Dante setzte sich neben sie und streichelte ihre Wange. Seine Berührung wirkte so zärtlich, dass sie unfähig war, sich dagegen zu sträuben, und sie schmiegte sich unwillkürlich an ihn. „Du kannst mir alles erzählen. Du bist bei mir sicher, Tess, ich verspreche es dir.“

Sie wollte es so gern glauben. Heiße Tränen liefen ihr über das Gesicht. „Dante, ich …“

Stille dehnte sich zu endlosen Sekunden. Ihre Stimme versagte den Dienst. Sie holte tief Luft, beugte sich zu Dantes rechtem Oberschenkel und legte den Einstich bloß. Sie blickte ihn an und legte ihre Handfläche auf die ungenäht klaffende Wunde.

Sie konzentrierte all ihre Gedanken, all ihre Energie, bis sie fühlte, dass der Heilungsprozess einsetzte.

Dantes verletzte Haut begann sich zusammenzuziehen und verdichtete sich. Die Wunde schloss sich so nahtlos, als wäre sie nie da gewesen.

Nach einigen Augenblicken zog sie die Hand weg und barg ihre kribbelnde Handfläche dicht an ihrem Körper.

„Mein Gott“, sagte Dante leise, die dunklen Brauen zusammengezogen, sodass sich eine steile Falte auf seiner Stirn bildete.

Tess starrte ihn an, unsicher, was sie sagen oder wie sie erklären sollte, was sie gerade getan hatte. Sie wartete schweigend auf eine Reaktion von ihm. Wie sollte sie seine Äußerung einordnen?

Er strich mit seinen Fingern über die glatte, narbenlose Haut und sah Tess an. „Arbeitest du so in der Klinik, Tess?“

„Nein.“ Sie stritt es hastig ab und schüttelte energisch den Kopf. Die Unsicherheit, die sie gerade noch empfunden hatte, schlug um in Angst, was Dante jetzt von ihr denken würde.

„Nein, das tue ich nicht -  niemals. Na ja … ich hab eine Ausnahme gemacht, als ich Harvard behandelt habe, aber das war das einzige Mal.“

„Was ist mit Menschen?“

„Nein“, erwiderte sie. „Nein, ich habe nie …“ Sie brach ab.

„Du hast deine Berührung nie bei einer Person angewendet?“

Tess stand auf. Kalte Panik überschwemmte sie, als sie an das letzte Mal vor dieser überstürzten Demonstration an Dante dachte -  das verfluchte letzte Mal, als sie ihre Hände auf einen anderen Menschen legte. „Meine Berührung ist ein Fluch. Ich wünschte, ich hätte diese Fähigkeit überhaupt nicht.“

„Es ist kein Fluch, Tess. Es ist eine Gabe. Eine sehr außergewöhnliche Gabe. Herrgott, wenn ich daran denke, was du alles tun könntest …“

„Nein!“ Sie schrie die Ablehnung heraus, bevor sie sie runterschlucken konnte. Ihre Füße trugen sie ein paar Schritte weg von Dante, der jetzt ebenfalls aufgestanden war. Er starrte sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Besorgnis an. „Ich hätte das nicht tun sollen. Ich hätte es dir niemals zeigen dürfen.“

„Nun, das hast du aber, und jetzt solltest du mir vertrauen, damit ich alles verstehen kann. Wovor hast du solche Angst, Tess? Vor mir oder vor deiner Gabe?“

„Hör auf, es so zu nennen!“ Sie umarmte sich selbst mit festem Griff, Erinnerungen rissen sie mit wie ein schwarzer, reißender Sog. „Du würdest es nicht Gabe nennen, wenn du wüsstest, was es aus mir gemacht hat -  was ich getan habe.“

„Erzähl es mir.“

Dante kam langsam auf sie zu, sein Körper nahm ihr die Sicht auf alles andere und kam ihr bedrängend nahe. Sie hätte gedacht, dass sie weglaufen würde -  flüchten, sich verstecken, wie sie es die letzten neun Jahre getan hatte. Aber ein noch stärkerer Impuls trieb sie dazu, sich in seine Arme werfen zu wollen und alles aus sich herausströmen zu lassen, abscheulich, aber reinigend.

Sie holte tief Luft und war verlegen, als ein unterdrücktes Schluchzen ihr den Atem stocken ließ.

„Alles ist gut“, sagte Dante. Seine sanfte Stimme und die zärtliche Art, wie er sie umarmte, ließen sie beinah zusammenbrechen. „Komm her. Ist ja gut.“

Tess klammerte sich an ihn und balancierte auf einem emotionalen Kraterrand, den sie fühlen konnte, doch sie traute sich noch nicht hinzusehen. Sie wusste, der Absturz würde jäh und schmerzhaft sein. So viele scharfkantige Steine warteten darauf, sie zu verletzen, wenn sie fiel. Dante drängte sie nicht. Er hielt sie fest umarmt und ließ sie an seiner soliden, verlässlichen Stärke teilhaben.

Schließlich fanden Worte den Weg aus ihrem Innern bis zu ihrem Mund. Dort war ihr Gewicht zu schwer und ihr Geschmack zu bitter, also zwang sie sie hinaus ins Freie.

„Als ich vierzehn war, starb mein Vater bei einem Autounfall in Chicago. Meine Mutter heiratete im Jahr darauf wieder; einen Mann, den sie in der Kirche kennengelernt hatte. Er machte erfolgreich Geschäfte in der Stadt und hatte ein großes Haus am See. Er war großzügig und freundlich -  jeder mochte ihn, sogar ich, ungeachtet der Tatsache, dass ich meinen leiblichen Vater sehr vermisste. Meine Mutter trank; sie trank eine ganze Menge, schon solange ich mich erinnern kann. Ich dachte, es würde ihr bessergehen, nachdem wir in das Haus meines Stiefvaters gezogen waren, aber es dauerte nicht lange und sie hatte einen schlimmen Rückfall. Meinen Stiefvater kümmerte es nicht, dass sie Alkoholikerin war. Er hielt die Bar immer schön gefüllt, sogar nach ihren schlimmsten Trinkgelagen. Ich fing an zu begreifen, dass er sie betrunken vorzog und es viel besser fand, wenn sie ganze Abende weggetreten auf der Couch verbrachte und nicht mitbekam, was er trieb.“

Tess fühlte, wie Dantes Körper starr wurde. Seine Muskeln vibrierten mit einer gefährlichen Spannung, die sich anfühlte wie ein Schild der Stärke, der sie schützend deckte.

„Hat er dich … angefasst, Tess?“

Sie schluckte schwer und nickte an seiner nackten Brust. „Als es anfing -  fast ein ganzes Jahr lang - , war er vorsichtig. Er umarmte mich eine Spur zu innig und zu lange und sah mich auf eine Art an, die mir unangenehm war. Er versuchte mich mit Geschenken und Partys für meine Freunde im Haus am See für sich zu gewinnen, aber ich war nicht gern zu Hause, und sobald ich sechzehn war, hab ich die meiste Zeit woanders verbracht.

Ich habe bei Freunden übernachtet, war den Sommer über in einem Camp, alles nur, um weg zu sein. Aber schließlich musste ich wieder nach Hause. Die Sache eskalierte in den Monaten vor meinem siebzehnten Geburtstag. Er wurde mir und meiner Mutter gegenüber gewalttätig, schubste uns herum, sagte schreckliche Dinge zu uns. Und dann, eines Nachts …“

Tess’ Mut schwand. Ihr Kopf schwamm in dem erinnerten Lärm von Flüchen und wilden Schimpftiraden; dem plumpen Getöse betrunkenen Stolperns; dem splitternden Krachen von zerbrechendem Glas. Und sie konnte noch immer das leichte Knarren ihrer Schlafzimmertür hören wie in jener Nacht, in der ihr Stiefvater sie aus ihrem unruhigen Schlaf weckte, sein Atem stinkend nach Schnaps und Zigarettenqualm.

Seine fleischige Hand war salzig und verschwitzt, als er sie ihr auf den Mund presste, um sie am Schreien zu hindern.

„Es war mein Geburtstag“, flüsterte sie benommen. „Er kam gegen Mitternacht in mein Zimmer und sagte, er wolle mir einen Geburtstagskuss geben.“

„Dieses widerwärtige Schwein.“ Dantes Stimme war ein bösartiges Knurren, aber seine Finger waren sanft, als er durch ihr Haar strich. „Tess … meine Güte. Diese eine Nacht am Fluss, als ich versucht habe …“

„Nein. Das war nicht das Gleiche. Es hat mich daran erinnert, ja, aber es war auf keinen Fall das Gleiche.“

„Es tut mir so leid. Alles. Besonders, was du durchgemacht hast.“

„Lass“, sagte sie, nicht willens, sein Mitleid anzunehmen, ehe sie nicht zum schlimmsten Teil gekommen war. „Als mein Stiefvater in mein Zimmer kam, legte er sich zu mir ins Bett. Ich habe mit ihm gekämpft, ihn getreten, geschlagen, aber er war viel stärker als ich und drückte mich mit seinem Gewicht nieder.

Irgendwann während des Kampfes hörte ich, wie er scharf Atem holte. Dann würgte und röchelte er plötzlich, als hätte er Schmerzen. Er hörte auf, mich festzuhalten, und schließlich schaffte ich es, ihn von mir herunterzustoßen. Er ließ los, weil er einen Herzanfall hatte. Er lief dunkelrot an, dann blau -  er starb direkt dort auf dem Fußboden meines Schlafzimmers.“

Dante sagte nichts, und ein langes Schweigen folgte.

Vielleicht wusste er, wo ihr Bekenntnis hinführen würde. Aber sie konnte jetzt nicht aufhören. Tess stieß einen tiefen Atemzug aus, sie näherte sich dem Punkt, an dem es kein Zurück gab.

„Ungefähr zu diesem Zeitpunkt kam meine Mutter rein. Wie immer betrunken. Sie sah ihn und flippte aus. Sie raste vor Wut

-  vor Wut auf mich. Sie brüllte mich an, ich sollte ihm helfen, ihn nicht sterben lassen.“

„Sie wusste, was du mit deiner Berührung ausrichten konntest?“, hakte Dante sanft nach, um ihr zu helfen.

„Sie wusste es. Sie wusste es aus erster Hand, weil ich ihre Quetschungen und ihre gebrochenen Knochen geheilt hatte. Sie war dermaßen wütend auf mich, dass sie mir die Schuld an seinem Herzanfall gab. Ich glaube, sie machte mich für alles verantwortlich.“

„Tess“, murmelte Dante. „Sie hatte nicht das Recht, dir für irgendetwas die Schuld zu geben. Das weißt du doch, oder?“

„Jetzt schon. Ich weiß. Aber damals war ich dermaßen verängstigt; ich wollte nicht, dass sie unglücklich war. Also half ich ihm, wie sie es verlangt hatte. Ich reanimierte sein Herz und entfernte die Pfropfen in seinen Arterien. Er wusste nicht, was mit ihm geschehen war, und wir haben es ihm nicht erzählt. Erst drei Tage später fand ich heraus, was für einen furchtbaren Fehler ich begangen hatte.“

Tess schloss die Augen, zurückversetzt in jene Zeit, als sie zu dem Werkzeugschrank ihres Stiefvaters ging, um für ihre Skulptur anlässlich eines Schulprojekts ein Kittmesser zu holen. Sie nahm die Trittleiter und stieg hinauf, um in der obersten Lade nach dem Werkzeug zu suchen. Sie sah die kleine Holzkiste erst, als sie mit dem Ellenbogen dagegenstieß und die Schachtel zu Boden fiel.

Fotos fielen heraus, Dutzende von Fotos. Polaroidaufnahmen von Kindern unterschiedlichen Alters, spärlich bekleidet oder nackt. Einige von ihnen wurden vom Fotografen während der Aufnahmen angefasst. Sie hätte diese widerlichen Hände überall wiedererkannt.

Tess schauderte in Dantes Armen, erschüttert bis ins Mark.

„Ich war nicht das einzige Opfer meines Stiefvaters. Ich fand heraus, dass er jahrelang Kinder in übelster Weise missbraucht hatte, vielleicht jahrzehntelang. Er war ein Monster, und ich hatte ihm zu einer zweiten Chance verholfen, weitere Kinder zu missbrauchen.“

„Scheiße“, zischte Dante. Er hielt sie ein Stück von sich weg und sah sie ernst an. Ekel und Abscheu spiegelten sich in seiner Miene, dann zog er sie wieder liebevoll in seine Arme. „Es war nicht deine Schuld. Du konntest das nicht wissen, Tess.“

„Aber als ich es wusste, musste ich es in Ordnung bringen“, sagte sie und gab ein ironisches, bitteres Lachen von sich. Dante runzelte die Stirn. „Ich musste zurücknehmen, was ich ihm gegeben hatte.“

„Zurücknehmen?“

Sie nickte. „In derselben Nacht habe ich die Tür zu meinem Zimmer offen gelassen und auf ihn gewartet. Ich wusste, er würde kommen, weil ich ihn darum gebeten hatte. Er kam hereingeschlichen, sobald meine Mutter eingeschlafen war. Ich ermunterte ihn, zu mir ins Bett zu kommen. Gott, das war das Schwierigste von allem -  ihn nicht merken zu lassen, dass sein Anblick mir den Magen umdrehte. Er streckte sich neben mir aus, und ich sagte ihm, er solle die Augen zumachen, weil ich mich für seinen Geburtstagskuss, den er mir vor einigen Nächten gegeben hatte, erkenntlich zeigen wolle. Ich sagte, er dürfe nicht blinzeln, und er gehorchte mir völlig, weil er so gierig war.

Ich habe mich auf seinen Bauch gesetzt und ihm die Hände auf den Brustkorb gelegt. In Sekundenschnelle schoss all meine Wut, all mein Zorn in meine Hände, wie elektrischer Strom durchfuhr es mich, und dann ging es durch meine Fingerkuppen direkt in ihn hinein. Er riss die Augen weit auf, und da begriff er, was ich von ihm wollte -  das zeigte mir der Ausdruck von Entsetzen und Verwirrung in seinen Augen. Aber es war zu spät für ihn, er konnte nichts mehr tun. Ein heftiger Krampf, und sein Herz hörte augenblicklich auf zu schlagen. Ich machte weiter, mit all meiner Entschlossenheit, und ich spürte, wie das Leben aus ihm wich. Ich hab noch zwanzig Minuten weitergemacht, nachdem er längst tot war, nur um sicherzugehen.“

Tess merkte gar nicht, dass sie weinte, bis Dante ihr die Tränen aus dem Gesicht wischte. Sie schüttelte den Kopf, und ihre Stimme würgte in ihrem Hals. „Ich bin noch in dieser Nacht von zu Hause weggegangen. Ich kam hierher nach New England und blieb bei Freunden, bis ich die Schule beendet hatte und ein neues Leben anfangen konnte.“

„Und deine Mutter?“

Tess zuckte die Achseln. „Ich habe nie wieder ein Wort mit ihr gesprochen. Ihr war das egal. Sie hat nie versucht, mich zu finden, und um die Wahrheit zu sagen, ich war froh darüber.

Wie auch immer, sie ist vor ein paar Jahren gestorben, an einem Leberleiden, soweit ich weiß. Nach dieser Nacht -  nach dem, was ich getan hatte -  wollte ich nur noch alles vergessen.“

Dante zog sie wieder an sich, und sie sträubte sich nicht.

Vergrub sich in seiner Wärme, erschöpft vom erneuten Durchleben des Albtraums ihrer Vergangenheit. Das alles auszusprechen war hart gewesen, aber jetzt, wo es heraus war, empfand sie ein Gefühl der Befreiung und lindernden Erleichterung.

Gott, war sie erschöpft. Es schien fast, als hätten all die Jahre des Weglaufens und Versteckens sie auf einmal eingeholt, und eine schwere Müdigkeit kam über sie.

„Ich habe mir geschworen, dass ich meine Fähigkeit nie wieder einsetze, bei keinem Lebewesen. Es ist ein Fluch, wie ich dir gesagt habe. Vielleicht verstehst du das jetzt.“

Tränen stiegen ihr in die Augen, und sie ließ ihnen freien Lauf. Sie vertraute ganz darauf, dass sie in Sicherheit war -  zumindest im Augenblick. Dantes starke Arme lagen beschirmend um sie. Seine sanft gemurmelten Worte waren eine Stütze, die sie mehr benötigte, als sie je für möglich gehalten hätte.

„Du hast nichts Schlechtes getan, Tess. Dieser menschliche Abschaum hatte keinerlei Recht auf das Leben, das er führte. Du hast Gerechtigkeit geübt -  nach deinen eigenen Möglichkeiten, aber es war Gerechtigkeit. Zweifle nie daran.“

„Du denkst nicht, dass ich eine Art … Monster bin? Kaum besser als er, da ich ihn umgebracht habe, kaltblütig und bewusst?“

„Niemals.“ Dante hob ihr Kinn mit seiner Hand und sah sie an. „Ich finde, dass du mutig bist, Tess. Ein rächender Engel, so sehe ich dich.“

„Ich bin eine Missgeburt.“

„Nein, Tess. Nein.“ Er küsste sie zärtlich. „Du bist erstaunlich.“

„Ich bin ein Feigling. Ich laufe immer weg, genau wie du gesagt hast. Es stimmt. Ich habe Angst und laufe so lange und so weit, dass ich nicht sicher bin, ob ich jemals wieder anhalten kann.“

„Dann lauf zu mir.“ Dantes Blick war ernst, als er ihr fest in die Augen sah. „Ich weiß alles über Angst, Tess. Sie steckt auch tief in mir. Dieser ,Krampfanfall‘, den ich in deiner Klinik hatte, war kein medizinisches Leiden, nicht im Entferntesten.“

„Was war es dann?“

„Der Tod“, entgegnete er dunkel. „Schon solange ich denken kann, habe ich diese Attacken -  diese Visionen. Es sind die letzten Minuten meines Lebens. Es ist höllisch und kaum vorstellbar, aber ich kann es sehen, als würde es wirklich passieren.

Ich fühle es, Tess. Das ist mein Schicksal.“

„Das verstehe ich nicht. Wie kannst du dir da so sicher sein?“

Sein Lächeln kam schief und ironisch. „Ich bin sicher. Meine Mutter hatte ähnliche Visionen von ihrem Tod und auch vom Tod meines Vaters. Und bei beiden trat der Tod exakt so ein, wie es ihr in ihren Visionen vorher erschienen war. Sie konnte es weder ändern noch abwenden. Also versuche ich, meinem Ende davonzurennen. Ich laufe schon mein Leben lang davor weg. Ich habe mich immer isoliert, mich gegen alles abgeschirmt, was mir Lust machen könnte, langsamer zu werden und wirklich zu leben. Ich habe mir nie Gefühle erlaubt.“

„Gefühle sind gefährlich“, murmelte Tess. Auch wenn sie sich nicht wirklich ausmalen konnte, welchen Schmerz Dante mit sich herumtrug, empfand sie, dass eine Art Verwandtschaft zwischen ihnen wuchs. Beide allein, beide verloren in ihren Welten. „Ich möchte nichts für dich empfinden, Dante.“

„Ach, Tess. Ich will auch nichts für dich empfinden.“

Er hielt ihrem Blick stand, und seine Lippen legten sich auf ihre. Sein Kuss war süß, zärtlich und ein wenig andächtig. Er riss all ihre Mauern ein, die Ziegelsteine ihrer Vergangenheit und ihrer Qual stürzten ins Nichts und ließen sie nackt und bloß zurück, unfähig, sich vor ihm zu verbergen. Tess erwiderte seinen Kuss und wollte mehr. Sie fror bis auf die Knochen, und sie brauchte alle Wärme, die er ihr geben konnte.

„Bring mich ins Bett“, flüsterte sie. „Bitte, Dante …“

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